Selbst ein Grenzgänger zwischen den Welten, bietet sich der Historiograph Flavius Josephus (37/38 – ca. 100) als Gegenstand eines interdisziplinären Forschungsprojektes geradezu an: Er verbindet in Name, Werk und Wirken Jüdisches mit Römisch-Hellenistischem und wird seit der Spätantike von christlicher, im Mittelalter auch von jüdischer Seite intensiv rezipiert. Seit langem besteht Konsens darüber, dass insbesondere die beiden Hauptwerke des Josephus, der Jüdische Krieg (JK) und die Jüdischen Altertümer (JA), als wichtige Quellen für die biblische Geschichte und die Zeit des Zweiten Tempels sowie für die Topographie des Heiligen Landes galten. Zudem liess sich Josephus als Kronzeuge für den Triumph des Christentums über das Judentum heranziehen: Gibt er doch im JKdie Schuld an der Zerstörung des Jerusalemer Tempels nicht den Römern, sondern rivalisierenden jüdischen Gruppierungen.
Die mittelalterliche Josephus-Rezeption verlief im Westen weitestgehend über die in der Spätantike entstandenen lateinischen Übersetzungen seiner beiden Hauptwerke und den ebenfalls spätantiken Ps.-Hegesippus, eine christianisierende Adaptation des JK (kollektiv: Josephus Latinus). Von der Bedeutung dieser Werke zeugt die schiere Fülle der erhaltenen Handschriften (knapp 300), die bis heute die Erarbeitung einer kritischen Edition dieses einflussreichen Textes verhindert hat. Auf jüdischer Seite setzte die Rezeption des Josephus erst im 10. Jh., mit dem dann aber äusserst erfolgreichen Volksbuch des Yosipponein, das ebenfalls auf dem lateinischen Josephus aufbaut.
Obwohl die Josephus-Forschung insgesamt eine unüberschaubare Fülle von Literatur hervorgebracht hat, herrscht doch die einhellige Meinung, dass gerade im Bereich der Rezeptionsforschung noch viel zu tun ist. Das hier angezeigte Projekt will einen Beitrag zur Schliessung dieser Lücke leisten, indem es die christliche wie jüdische Rezeption des Josephus exemplarisch anhand dreier miteinander verknüpfter Studien in den Blick nimmt:
Das philologische Teilprojekt untersucht Spuren der Rezeptionslenkung (Layout, Paratexte, …) und Spuren der Benutzung (Glossen, Markierungen, ...) in lateinischen Josephus-Handschriften und versucht, daraus auf bestimmte Rezeptionsinteressen und Benutzer(kreise) zu schliessen. Auch der Frage nach der ursprünglichen Provenienz und nach späteren Standorten, an denen mit den Manuskripten gearbeitet wurde, soll zur historischen, geistes-/ religions- / und bildungsgeschichtlichen Kontextualisierung nachgegangen werden.
Das judaistische Teilprojekt widmet sich dem im 10. Jh. in Süditalien entstandenen hebräischen Yosippon, zu dessen Hauptquellen der Ps.-Hegesippus und Passagen aus den JA zählen. Das Werk belegt mithin eine jüdische Rezeption christlicher bzw. christianisierter Literatur in lateinischer Sprache – einen Austauschprozess, der für diesen Raum in dieser Zeit bisher noch wenig erforscht ist. Ausgehend vom Yosipponsoll untersucht werden, welche Rolle das Lateinische und das Hebräische für das jüdische Italien des 10. Jh. gespielt hat.
Das christentumsgeschichtliche Teilprojekt nimmt die Rezeption des Josephus Latinusvergleichend in zwei historiographischen Werken des 12. Jh. in den Blick, die demselben historischen Kontext und intellektuellen Milieu entstammen, nämlich der Schule von St. Victor in Paris, in der die Schriften des Josephus ein wichtiges Referenzwerk darstellten, aber auch kritisch diskutiert wurden. Es soll untersucht werden, wie Petrus Comestor in seinem biblischen Lehrbuch der Weltgeschichte, der Historia scholastica, und Wilhelm von Tyrus in seiner Kreuzzugschronik, der sog. Historia rerum in partibus transmarinis gestarum, auf den lateinischen Josephus zurückgreifen, wie sie ihn verstehen und verwerten, welche Funktion das aus ihm geschöpfte Wissen im neuen Kontext erfüllt und welchen Josephus die beiden Autoren für ihre Leserschaft kreieren.
Insgesamt geht es um eine paradigmatische Studie zu verschiedenen Lesarten, denen ein Text unterzogen werden kann, der sich unter wechselnden Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen für verschiedene Interessengruppen fruchtbar machen lässt.
Das Projekt wird ab April 2019 vom Schweizer Nationalfonds unter dem Titel “Lege Iosephum!” Ways of Reading Josephus in the Latin Middle Ages gefördert.
Projektgruppe:
Prof. Dr. Katharina Heyden (Theologie, Bern)
Prof. Dr. Gerlinde Huber-Rebenich (Klassische Philologie, Bern)
Prof. Dr. René Bloch (Judaistik, Bern)
Kontakt:
Prof. Dr. Gerlinde Huber-Rebenich