Walter Benjamin Kolleg

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Original – Kopie: Techniken und Ästhetiken der Reproduzierbarkeit

Original – Kopie: Techniken und Ästhetiken der Reproduzierbarkeit

Die Forschungsplattform bot einen inter- und transdisziplinären Rahmen für die Entwicklung von Analysen und Thesen zum Thema „Original – Kopie: Techniken und Ästhetiken der Reproduzierbarkeit“. Ausgangspunkt war der Begriff der ‚technischen Reproduzierbarkeit‘, den Walter Benjamin mit seinem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (dt. 1936) geprägt hat. Nach Benjamin geht mit der ‚technischen Reproduzierbarkeit‘ das ‚Hier und Jetzt des Originals’, dessen ‚Aura’, verloren. Dialektische Kehrseite dieses Verlusts aber ist die ‚massenweise Vervielfältigung’ des Originals, die es ermöglicht, ‚das Reproduzierte zu aktualisieren‘ und auf diese Weise den Bedürfnissen der ‚Aufnehmenden (d.h. der Rezipienten) in ihrer jeweiligen Situation entgegenzukommen’. Aufgrund des Medienwandels, der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, ist Benjamins Ansatz mit seinen medientheoretischen Implikationen von ungebrochener Aktualität und wird in laufenden Debatten der kulturwissenschaftlichen Disziplinen (wie Literatur-, Kunst-, Bild-, Film-, Medienwissenschaften) neu fruchtbar gemacht.

Benjamins Begriff ist damit geeignet, die Basis eines disziplinenübergreifenden Projekts zu schaffen, in dem einerseits die ‚Techniken‘ (handwerklichen und künstlerischen Fertigkeiten), andererseits die ‚Ästhetiken‘ (Wahrnehmungsvorgänge) der Reproduzierbarkeit erforscht werden. Berücksichtigung fanden dabei Kopier-, Reproduktions-, Adaptions-, Assimilations- und Appropriationsprozesse in verschiede­nen Epochen (vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart) und in diversen Artefakten (Handschriften, erzählenden, lyrischen, dramatischen Gattungen, Drucken, Gemälden, Skulpturen, Münzen und Geld, Photographien, Filmen, Performances, digitalen Repräsentationen, Hypertexts etc.). Angesichts der Tatsache, dass die gegenwärtigen digitalen Techniken eine multiple und potenziell endlose Reihe von ‚Reproduktionen‘ ermöglichen, ist der Status von ‚Original‘ und ‚Kopie‘ grundsätzlich zu problematisieren. Inwiefern sind beide Konzepte im Rahmen einer seriellen Reproduzierbarkeit noch voneinander abgrenzbar? Inwiefern ist das Verhältnis von ‚Original‘ und ‚Kopie‘ linear fassbar, inwiefern unterliegt es nichtlinearen, etwa netzwerkartigen Strukturen? Inwiefern vermag die ‚Kopie‘ auf die Einschätzung dessen, was als ‚Original‘ zu gelten hat, zurückzuwirken? Lässt sich aus solchen Überlegungen eine Neubestimmung der Konzepte von ‚Original‘ und ‚Kopie‘ vornehmen? Mit einzubeziehen sind dabei auch Modellbildungen in den Naturwissenschaften, etwa Kopierprozesse der Genome in der Molekularbiologie, aber auch juristische Aspekte, etwa im Hinblick auf geistiges Eigentum, Urheberrecht, Plagiat und Fälschung.

Ausgehend von Walter Benjamins Begriff der ‚technischen Reproduzierbarkeit’ wurden aber auch weiterführende theoretische Ansätze reflektiert, die sich mit ‚Praktiken des Sekundären’ auseinandersetzen, etwa ‚Transkriptivität’ (L. Jäger), ‚Emergenz’ (W. Iser), der ‚genetische Code‘ und seine ‚Lesbarkeit‘ (E. Schrödinger, H. Blumenberg), ‚Organicism’ (C. van Eck), ‚Adaptation’ (L. Hutcheon), ‚Intermedialität’ (L. Elleström, I. Rajewsky, J. Schröter, W. Wolf), ‚Substitution’ (A. Nagel und Ch. S. Wood) ‚Remediation’ (J. D. Bolter und R. Grusin), ‚Transmedia’/‚Transmedialität’ (H. Jenkins; U. Meyer, R. Simanowski, Ch. Zeller).

Die Plattform organisierte am 15. Dezember 2016 einen transdisziplinären Workshop zum Thema „Original – Kopie: Techniken und Ästhetiken der Reproduzierbarkeit“ mit sechs Gästen: Prof. Frank Fehrenbach (Hamburg), Prof. Ludwig Jäger (Köln), Prof. Mariusz Nowacki (Bern), Prof. Cyrill Rigamonti (Bern), Prof. Wolfgang Brückle (Luzern) sowie Prof. Hans-Ulrich Gumbrecht (Stanford). Dabei wurden aktuelle Forschungsfragen im Dialog verschiedener Fächer (Kunstgeschichte, Medientheorie, Literatur- und Kulturwissenschaft, Molekularbiologie und Wirtschaftsrecht) diskutiert und zudem wichtige Perspektiven für die zukünftige Forschung erörtert. Das detaillierte Programm und das Poster der Veranstaltung, sowie einen Bericht mit Rückblick auf den Workshop können heruntergeladen werden (s. u. Downloads).

Kulturwissenschaftliche Zeitschrift

Im Juni 2020 erschien eine Sondernummer der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift (Heft 3/2019) unter dem Titel „Original und Kopie: Techniken und Ästhetiken der re/produktiven Abweichung“. Beiträge:

Editorial (Gabriele Rippl/Michael Stolz)

1 Einleitung (Hgg. Gabriele Rippl/Michael Stolz)

2 Ludwig Jäger (Linguistik/Medientheorie Köln/Aachen): ›Aura‹ und ›Widerhall‹. Transkriptionstheoretische Überlegungen im Anschluß an die beiden Ideen des ›Originals‹ bei Benjamin

3 Gabriele Rippl (Literaturwissenschaft Bern): Ekphrasis als intermediale Transkriptionstechnik

4 Christine Göttler (Kunstwissenschaft Bern): Doppelgänger / Vielfachgänger: Übertragungsprozesse in der Kunst der Frühen Neuzeit 

5 Christina Thurner (Tanzwissenschaft Bern): Bewegte Referenzen. Bei-/Spiele re-/produktiver Abweichung im Tanz

6 Peter J. Schneemann (Kunstwissenschaft Bern): Bildgewordene Betrachtungen. Die Kopie als zeitgenössische Kulturtechnik der Mittelbarkeit

7 Cyrill P. Rigamonti (Urheberrecht Bern): Original und Kopie aus urheberrechtlicher Perspektive

8 Michael Stolz (Mediävistik/Digital Humanities Bern): Interview mit den Molekularbiologen Christopher Howe (Cambridge) und Mariusz Nowacki (Bern)

Verantwortlich:

Prof. Dr. Anselm Gerhard, Institut für Musikwissenschaft
Prof. Dr. Christine Göttler, Institut für Kunstgeschichte
Prof. Dr. Gabriele Rippl, Department of English (Sprecherin der Plattform)
Prof. Dr. Peter Schneemann, Institut für Kunstgeschichte
Prof. Dr. Michael Stolz, Institut für Germanistik
Prof. Dr. Christina Thurner, Institut für Theaterwissenschaft

Koordination:

Gabriele Rippl, gabriele.rippl@ens.unibe.ch